Die polyenergide Amöbe Reticulomyxa filosa zieht sich beim Umsetzen in neues Medium zuerst vollkommen zu einem nahezu unstrukturierten Plasmaklumpen von wenigen Kubikmillimetern Inhalt zusammen, ist aber dann in der Lage, innerhalb weniger Stunden ein komplettes Netzwerk aus feinen (10 Mikrometer) bis feinsten (kleiner 0,1 Mikrometer) Filopodien auszubilden, das eine Fläche von mehreren Quadratzentimetern bedeckt.

3.1.1 Aufbau des reticulopodialen Netzwerks

Der Aufbau des RPN beginnt mit der Ausbildung feiner Filopodien, die an beliebiger Stelle des Zellkörpers entstehen und sich über mehrere 100 Mikrometer frei in das Medium strecken können, bis sie Kontakt mit dem Untergrund oder einem anderen Substrat aufnehmen. (Abb. 3) Die Filopodien entstehen nicht oder zumindest nicht bevorzugt an den Stellen, an denen der Zellkörper dem Substrat aufliegt. Diesen Filopodien, die sich ständig weiter verlängern, folgt alsbald die Hauptmasse des Zellplasmas (Abb. 4). Das Plasma folgt den Bahnen der sich häufig verzweigenden und wieder verschmelzenden Filopodien, was zu einem ähnlichen Wuchsbild des Zellkörpers führen kann. (Abbildungen 5 und 6) Nach einigen Stunden bedeckt die Zelle eine Fläche von mehreren Quadratzentimetern mit ihren feinen Ausläufern. Mit der zunehmenden Ausbildung des RPN nimmt auch die Abgrenzung des Zellplasmas gegen die Filopodien zu, bis schließlich der Zellkörper in zwei scharf abgegrenzte Bereiche unterteilt ist: Die wenigen zentralen Plasmastränge, die sämtliche Zellkerne beinhalten und in denen die Mikrotubuli in kleinen Bündeln oder dispergiert vorliegen, und die um mehrere Zehnerpotenzen dünneren Filopodien, die den Enden der Plasmastränge entspringen, keine Zellkerne mehr enthalten und zu einem wesentlichen Teil mit gebündelten Mt erfüllt sind. Ein ähnliches Bild wie die makroskopischen Untersuchungen zeigen auch mikroskopische Beobachtungen an zerkleinerten Zellbruchstücken. Die 5 - 30 Mikrometer großen kugelförmigen Fragmente treiben fast augenblicklich ungerichtet Filopodien von ca. 1 Mikrometer Durchmesser aus (Abb. 7). Den Filopodien folgt das Zellplasma, und schon nach ungefähr einer Viertelstunde hat sich ein flächiges Netzwerk entwickelt (Abb. 8).

Die Unterschiede zwischen Filopodien und zentralem Plasma beschränken sich nicht nur auf die andere Verteilung von Mikrotubuli und Zellkernen. Im elektronenmikroskopischen Bild erkennt man noch eine Reihe anderer Differenzierungen. So kommen Dictyosomen und rauhes endoplasmatisches Reticulum nur im zentralen Plasma vor, während die fuzzy coated vesicles ein typisches Organell der feinen Filopodien sind. (Vergleiche Abbildung 17 eines quer geschnittenen zentralen Plasmastrangs mit Abb. 39 eines dickeren Filopodiums.) Des weiteren scheint es so zu sein, daß die Mitochondrien des zentralen Plasmas eine deutlichere Binnenstruktur aufweisen, als diejenigen der Filopodien. ("Mi" in Abbildung 17; Abbildung 40.)

3.1.2 Dynamik des Cytoskeletts in kernlosen Fragmenten

Die Ausbildung neuer Filopodien scheint nicht auf das Vorhandensein von Zellkernen oder anderer mikroskopisch erkennbarer Organellen angewiesen zu sein. Es wurden auch Zellfragmente bei der Ausbildung feiner Filopodien beobachtet, die aufgrund ihrer geringen Größe keine Zellkerne mehr beinhalten konnten. Die Abbildungen 9 a-d zeigen solch ein Bruchstück, das aus der abgerissenen Spitze eines Filopodiums hervorgegangen ist, in einer Serie von Aufnahmen, die in einem Zeitabstand von wenigen Minuten aufgenommen wurden. Dieses winzige Fragment ist nicht nur in der Lage, seine Mt aufrecht zu erhalten, sondern es bildet auch noch neue Filopodien aus und verlängert diese. Die Bewegung der Organellen entlang der Mt bleibt ebenfalls für viele Stunden bestehen. Erst mehr als sechs Stunden nach der Abtrennung vom Zelleib hört die Umgestaltung des Cytoskeletts - wahrscheinlich infolge ATP-Mangels - auf, und die Plasmaströmung kommt zum Erliegen (Abb. 10 a/b, im Abstand von 20 Minuten photographiert). Ein Abbau der Filopodien scheint nicht zu erfolgen, sondern sie erstarren, was im Widerspruch zu dem Verhalten kompletter Organismen steht, die sich bei Nahrungs- bzw Energiemangel stets zusammenziehen oder zu großen, filopodienlosen Plasmamassen fragmentieren.

3.1.3 Fusion von Zellen

Auslaufende Zellen oder Zellbruchstücke von Reticulomyxa fusionieren leicht. In Abbildung Nr.. 8 sieht man, daß das Zellfragment in der Bildmitte mit zwei weiteren Bruchstücken fusioniert hat. Makroskopisch wird dieser Vorgang durch die Abbildungen Nr. 11 a und b veranschaulicht. Hierbei handelt es sich um zwei auslaufende komplette Zellen, von denen die auf dem Photo dunkler erscheinende mit Neutralrot angefärbt wurde. Es ist deutlich zu erkennen, daß die die Zellen verbindenden Fortsätze wesentlich kräftiger als diejenigen sind, die gegen den normalen Untergrund gerichtet sind. Durch diese Brücke strömt schließlich auch das Plasma der dunkleren Zelle in den Körper der benachbarten Zelle. (Pfeil in Abb. 11 b.)

3.1.4 Ernährungsweise von Reticulomyxa filosa

So auffällig das RPN von Reticulomyxa ist, so wenig weiß man über seine Funktion als ernährende Struktur. Im Gegensatz zu Allogromia laticollaris, bei der Ernährungs- und Lebensgewohnheiten schon länger bekannt sind, ist Rxf eher zufällig aus künstlich angelegten Teichen (Hülsmann, 1984) oder Süßwasseraquarien (Koonce und Schliwa, 1985) isoliert worden, und die natürliche Nahrungsquelle ist so im Unklaren geblieben. Die Ungewißheit über die Ernährungsbedingungen zeigt sich nicht zuletzt darin, daß Koonce und Schliwa in ihrem oben angeführten Artikel noch als Nahrung für Rxf Trockenfutter für tropische Fische empfehlen, bevor sie 1986 (Koonce und Schliwa, 1986) ebenso wie Hülsmann (1984) zur Fütterung mit Weizenkeimen übergehen. Eigene Beobachtungen ergaben, daß die feinen Filopodien von Reticulomyxa ausgestreute, mit Lugolscher Lösung gefärbte, Stärkekörner schnell aufnehmen und zum Zellkörper transportieren. Das Wuchsbild der Plasmodien deutet darauf hin, daß die Zelle bevorzugt auf Ansammlungen von Stärkekörnern hinwächst (Vergleiche auch Abbildung Nr.. 6). Ob der Transport der Stärke intra- oder extrazellulär erfolgt, konnte nicht eindeutig beobachtet werden. Im Gegensatz zu der positiven Reaktion auf Stärkekörner wurden abgekochte und mit Kongorot gefärbte Zellen der Bäckerhefe Saccharomyces cerevisiae ignoriert und nicht abtransportiert. Dies deckt sich mit Beobachtungen Hausers (persönliche Mitteilung), wonach Kulturmedien, die Proteine enthalten, für Reticulomyxa ungeeignet sind. Ebenso konnte keine Reaktion auf die in der Kultur immer vorhandenen Bakterien und Algen beobachtet werden. Bei der Betrachtung der in den elektronenmikroskopischen Schnitten vorhandenen Nahrungsvakuolen zeigt sich jedoch, daß die meisten von ihnen Bakterien enthielten, während Stärkekörner und Algen nur selten zu finden waren. (Beispiele für Nahrungsvakuolen in den Abbildungen 12 - 14.)

3.1.5 Exkretion

Wie schon Koonce & Schliwa (1985) beobachteten, hinterläßt Reticulomyxa filosa bei der Wanderung über den Untergrund eine zarte Schleimhülle, die nach Meinung der Autoren aus Abbaustoffen besteht oder solche beinhalten könnte. Tatsächlich befinden sich in allen, aber besonders in den alten retardierenden Bereichen des RPN zahlreiche vielkammerige Exkretionsvesikel (Abb. 16), die anscheinend dem Aufbau der Schleimhülle dienen.

Die Funktion kleiner, etwa mitochondriengroßer, aber weniger osmiophiler Granula, die ebenfalls in dieser Zone gehäuft auftreten, (Abb. 17) ist noch nicht endgültig geklärt. Es scheint jedoch so, als ob diese Granula direkt aus den Produkten des Golgi-Apparates entstehen, exkretiert werden und sich daraufhin in eine blasige Substanz auflösen. In Abbildung Nr.. 17 ist besonders das Granulum, das in der Plasmatasche eingeschlossen ist, auffällig. Es trägt an seinem Rand eine Reihe deutlich stärker kontrastierter, unscharf abgegrenzter Flecken, und von diesen gehen Blasen aus.

3.1.6 Oberflächenvergrößernde Strukturen in Vakuolen von Reticulomyxa filosa

Bei Reticulomyxa filosa wurden an Vakuolen, die Nahrungspartikel enthielten, häufiger extreme Vergrößerungen der Oberfläche durch zahlreiche schlauch- bis flaschenförmige Einstülpungen gefunden. (Abb. 17.) Besonders auffällig sind diese Strukturen in Abb. 18. Hier handelt es sich um ein ganzes Feld solcher Einstülpungen, die in ein stark verzweigtes Netz von Mikrofilamenten (Abb. 19) eingebettet sind. Die Mf verbinden die Hälse dieser Einstülpungen untereinander, oder ziehen von der Membran der Nahrungsvakuole in das Zellplasma. Auch die Oberfläche dieser Vesikel ist von Mikrofilamenten umgeben. Sowohl der Hals als auch der Bauchbereich sind spiralförmig von ungefähr 8 - 10 nm dicken Filamenten oder Filamentbündeln umwunden. Dadurch, daß diese Filamentbündel ihrerseits durch dünnere (ca. 6 nm) Filamente vernetzt sind, entsteht ein wabenförmiges Muster wie in Abb. 20. Obwohl lichtmikroskopisch keine kontraktile Vakuole bei Reticulomyxa filosa beobachtet wurde, kann doch angenommen werden, daß es sich bei den beobachteten Regionen um Spongiome kontraktiler Vakuolen handelt. Auffällig wäre dann jedoch, daß dieses Organell eine für Amöben untypische Differenzierung erfahren hätte.